Gastbeitrag von Michael Witt: Mit dem Recruiting-Lebenswelt-Modell zur besseren Recruitingorganisation

 15. Juni 2023

2022 hat Michael Witt das viel beachtete Buch „Recruitingmanagement und Recruitingorganisation“ veröffentlicht. Es beleuchtet und bewertet verschiedene aktuelle Recruitingorganisationsmodelle. Mit dem Recruiting-Lebenswelt-Modell stellt das Buch ein eigenes, hybrides Organisations-Modell vor, das Recruiting ganzheitlich betrachtet und alle handelnden Disziplinen einbezieht.

Im folgenden Gastbeitrag erläutert Michael Witt den aktuellen Zustand, der in den meisten Unternehmen in Deutschland vorherrscht und erklärt sein Recruiting-Lebenswelt-Modell (RLM) anhand eines Praxisbeispiels.

Begleitet wird dieser Beitrag von der thematisch zugehörigen Queb Podcast Episode #58.

Beide Veröffentlichungen zusammen bieten einen hervorragenden Gesamtblick auf den Optimierungsbedarf für HR (in Deutschland).
Den Podcast findet ihr hier bei Queb, bei Apple, Spotify oder Google.

Und jetzt, Bühne frei für Michael Witt!  

Recruiting als Dienstleistungsorganisation

Michael Witt (Recruiting-Lebenswelt-Modell (RLM)

Es ist in der Tat bemerkenswert, wie viele unterschiedliche Facetten das Berufsfeld Recruiting mitsamt seinen Schwesterdisziplinen Employer Branding sowie HR-Marketing mittlerweile hervorgebracht hat. Je Blickwinkel, internen Möglichkeiten, Unternehmensgröße und Ausgestaltung der Recruiting Organisation unterscheiden sich die angewendeten Recruiting-Ansätze und Methoden offenkundig enorm.

Dieses bereite Spektrum lässt sich einerseits auf gewachsene Unternehmensstrukturen sowie auf deren interne Bedürfnissen zurückführen. Es entblößt aber andererseits auch die mitunter latente Uneinigkeit der Unternehmen sowie der Recruiting-Branche. Das fällt auf, selbst wenn über den Beruf „Recruiting“ oder die Organisation des Berufsfeldes im Allgemeinen gesprochen wird. Auf lange Sicht bedeutet dies, dass sich Recruiting und die handelnden Personen ihrer Aufgabe und ihrer Funktion grundlegender als bisher bewusstwerden müssen und diese zum Wohle aller mit gängigen methodischen sowie wissenschaftlichen Ansätzen fundieren sollten.

Recruiting als Dienstleistung

Erste Antworten für eine mögliche methodische Fundierung können aus der bisweilen kontrovers diskutierten Frage nach den Kund:innen des Recruitings hervorgehen. Genauer hingeschaut lassen sich zwei mögliche Kundegruppen extrahieren, die für das Recruiting von Bedeutung sind: eine externe Gruppe (die Bewerber:innen) und eine interne Gruppe (die einstellenden Kolleg:innen, auch Hiring Manager genannt). Die aus dieser Konstellation entstehenden Beziehungs- und Erfahrungsräume, wie beispielsweise agile Guilds oder klassische Communities of Pratice, müssen in beidseitigen Abhängigkeiten gestaltet sowie gemanagt werden. Nur so kann einerseits das oben genannte „Bewusstwerden“ stattfinden und andererseits die methodische Fundierung folgen.

Recruiting-Lebenswelt-Modell | Abbilung: Das Dienstleistungsdreieck Im Recruiting

Abbildung: Das Dienstleistungsdreieck Im Recruiting; Quelle: Witt 2022, S. 18

Das zielgerichtete Management der externen Candidate Experience sowie der internen Customer Experience umfasst ebenfalls die passgenaue Erbringung der Recruiting Dienstleistung für jede der genannten Kundengruppen. Damit dies gelingt, müssen Voraussetzungen geschaffen werden, die die Umsetzung des Recruiting mitsamt seiner Wertschöpfung nicht im luftleeren Raum stattfinden lässt. Vor allem bedarf es für das Management der Kundenbeziehungen und die zugehörige Dienstleistungsproduktion einer strukturellen Verankerung innerhalb der Recruiting Organisation. Diese strukturelle Verankerung sollte im besten Fall selbstredend die Schwesterdisziplinen Employer Branding sowie HR-Marketing systematisch einbeziehen.

Recruitment als Dienstleistungsorganisation

Der strukturellen Ausgestaltung einer Recruiting Organisation liegt meist das vorherrschende Operating Model der gesamten HR-Organisation zugrunde und folgt nicht immer und unbedingt dem Leistungsprozess des Recruitings. Für eine konsequent an der Recruiting Dienstleistung orientierte Recruiting Organisation sind jedoch einige grundlegende strukturierende Handlungsschritte empfehlenswert.

Ein möglicher Schritt ist, die Recruiting Organisation von funktionalen Zuständigkeiten und organisationalen Grenzen hin in eine aufgabenorientierte Struktur zu überführen und so beispielsweise Employer Branding und HR-Marketing operativ direkt in die Recruiting Organisation zu integrieren. Spezialisierte Organisationsmodelle wie das Recruiting Lebenswelt Modell (RLM) können hier Antworten liefern. Das RLM sieht für Recruiting Organisationen drei Recruiting-Handlungsebenen vor, die eine Recruiting Organisation aufgabenbezogen strukturieren:

  1. Die Recruiting Management Ebene übernimmt, wie der Name schon vermuten lässt, steuernde, übergreifende sowie repräsentative Aufgaben der gesamten Organisation.
  2. Innerhalb der Recruiting Methodenebene findet die Erstellung von Recruiting Produkten oder auch Tools statt. Hier werden also kreative HR-Marketingkonzepte entwickelt oder auch Interview-Guidelines entworfen und dem operativen Recruiting zur Verfügung gestellt.
  3. Dieses findet auf der Recruiting Methodenebene statt, die das operative Herzstück der Recruiting Organisation darstellt und die Konzepte und Tools der Recruiting Methodenebene ihre operative Anwendung finden.

Damit die aufgabenorientierte interne Struktur nun wertschöpfend in Richtung seiner Kund:innen tätig werden kann, muss sie konsequent in eine funktionierende Delivery- und Demand-Struktur gegossen werden. Somit entsteht an dieser Stelle der Kern der Recruiting Dienstleistungsorganisation, welcher sich in Form eines spezifischen Delivery Modells zeigt. Dieser im Lebenswelt Recruiting Modell integriere Dienstleistungsansatz ist an gängige Ebenen-Modelle, wie zum Beispiel dem Target Interaction Model von Mercer oder an Service-Level Ansätze aus IT-Service Centern angelehnt und an die Bedarfe von Recruiting anpasst. Die erste Ebene dieser Modelle haben direkten Kontakt mit den Kundengruppen und die Aufgaben und Anforderungen entsprechenden denen, die beim RLM in der Recruiting Methodenebene formuliert sind. Die zweite Ebene steht meist in der Mitte der Ebenen-Modelle und ist für die Produktion und Breitstellung von Dienstleistungen verantwortlich. Auf das Recruiting Lebenswelt übertragen übernimmt hier analog die zweite Ebene ebenso die Herstellung und Bereitstellung von operativ einsetzbaren Recruitingtools (entspricht der Recruiting Konzeptebene). Diese Ebene hat aber in der Regel keinen direkten Kontakt zu den Kund:innen. Stattdessen wird sie von der ersten Ebene, der Recruiting Methodenebene beauftragt sowie von der dritten Ebene inhaltlich unterstützt. Die dritte Ebene entspricht mit Blick auf das RLM der Recruiting Managementebene. Sie bringt im Rahmen des Delivery Modells strategische Entscheidungen ein, die für die Erbringung der Recruiting Dienstleistung notwendig sind.

Abbildung: Das Delivery Modell

Abbildung: Delivery Modell; Quelle: Witt 2022, S.177

Praxisbeispiel

Es ist schwierig Tipps oder konkrete Handlungsempfehlungen zu formulieren, ohne eine Recruiting Organisation, ihre organisationale Ausgestaltung, ihre prozessuale Wertschöpfungstiefe oder die genauen Recruiting Bedarfe zu kennen. Mithilfe einer Case-Study lässt sich jedoch anschaulich und griffig die Umsetzung des Recruiting Lebenswelt Modells mitsamt seiner integrierten Delivery Ebenen aufzuzeigen.

Das Unternehmen, in dem das RLM in diesem Fall umgesetzt wird, ist in Österreich im Bereich der Drogeriemärkte mit knapp 7.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Branchenführer. Der Ausgangspunkt für den internen organisationalen Change ist das Vorhaben, die divisionalen Einheiten Employer Branding, Recruiting sowie Diversity Management in eine gemeinsame und eigenständige Organisationseinheit zusammenzuführen. Die so neu entstandene Einheit umfasst circa 35 Mitarbeitende und wird von einem jetzt agil organisierten fünfköpfigen Leitungsteam verantwortet.

Ein grundlegender Baustein für das Design des neuen Delivery-Konzeptes war das Verständnis über die bestehenden operativen Strukturen der Einheiten, ihrer Leistungsprozesse sowie der angebotenen Dienstleistungen und Produkte. Dafür wurden aus dem Design-Thinking stammende Recruiting-Problem-Framing Workshops eingesetzt. Anhand dieser Workshops ist eine gute und schnelle Visualisierung der Organisations- und Prozessstrukturen sowie der Zusammenarbeit innerhalb der Teams möglich. Die verdichteten Ergebnisse aus diesen Workshops dienten für die Konzeption des neuen drei Ebenen Recruiting-Dienstleistungsmodell.

Da sich in der neuen Recruiting Organisation drei Disziplinen befinden, die alle für sich genommen Kundenbedarfe bedienen müssen, wird das neue Delivery Modell in jeden Teilbereich der Organisation implementiert, jedoch in der zweiten und dritten Ebene inhaltlich und operativ miteinander verschränkt. Das bedeutet, dass Recruiting, Employer Branding und Diversity Management in ihrer jeweiligen ersten Ebene, der Dienstleistungsbereitstellung autark agieren und ihre jeweiligen Dienstleistungen eigenständig anbieten. Die zweite Ebene, die Dienstleistungserstellung, wird mit gemischten Teams betrieben. So gibt es zum Beispiel ein „Kampagnen-Team“ oder auch ein „Plattform-Team“ welche sich bereichsübergreifend für diese Themen verantwortlich zeichnen. Innerhalb der dritten Ebene, der Dienstleistungsstrategie, werden aus dem Leitungsteam heraus die notwendigen Entscheidungen getroffen und in die Ebenen transportiert.

Auf dem Weg hin zu der neuen Dienstleistungsstruktur war vor allem wichtig, das Zusammenspiel der ersten beiden Ebenen einzustudieren. Außerdem galt es, Unterschiede der Bereitstellung auf der einen Seite und die Erstellung auf der anderen Seite mit dem Team gemeinsam zu verinnerlichen. In der ersten Phase wurden ausgewählte „Produktteams“ integriert, die Zusammenarbeit begleitet und zusammen ausgewertet. Diese Produkt-Teams haben den Vorteil, Schnittstellen zu minimieren, im Prinzip zu eliminieren, Fachkompetenzen da zu bündeln, wo sie notwendig sind und schnell auf Bedarfe zu reagieren. Vor allem stark operativ ins Recruiting wirkende Teams, wie das bereits genannte Kampagnen-Team, welches sich mit sämtlichen Werbeformaten beschäftigt, hat schnell einen merkbaren Impact auf die Recruiting Dienstleistung. Aktuell steht bei dem Branchenführer die weitere Implementierung von Themen innerhalb der zweiten Ebene des Delivery Konzeptes an.

Fazit

Die Umsetzung eines neues Organisationsmodells in einer Recruiting Organisation und die notwendige Transformation dahin gründen sich sicher auf keine einfachen Entscheidungen und sind nicht einfach umzusetzen. Aber aktuelle Studien (z. B. die Recruiting Benchmarkstudie) zum Stand der Gestaltung des Recruitings (in Deutschland) zeigen ganz klar, dass Recruiting es nicht schafft sich so zu organisieren, dass sich Erfolg und Effizienz auf die Recruiting Organisation zurückzuführen lässt. Darüber hinaus zeigen die Erhebungen eindrücklich auf, dass es keine klare und fundierte Recruiting Organisation gibt. Stattdessen scheinen Budget und operative Recruiting Methoden die Schwerpunktsetzung zu sein. Wird eine Recruiting Organisation jedoch in ihrem Reifegrad weiterentwickelt, dann hat dies merkbare Auswirkungen auf die Recruiting Performance und somit auf den Erfolg des gesamten Recruitings.

 Über Michael Witt

Michael Witt (Recruiting-Lebenswelt-Modell (RLM)

Als Berater für Recruiting-Strategie und Organisationsentwicklung begleitet Michael Witt Recruiting-Organisationen bei kleinen und großen Change-Projekten und Transformationsvorhaben. Er berät Unternehmen bei strategischen und operativen Fragen in den Bereichen Recruiting und Personalmarketing. Dabei gilt sein besonderes Interesse den Themen Recruiting-Innovation, Recruiting-Digitalisierung, Recruiting-Resilienz und lernende Organisation.
https://lebensweltrecruiting.com/

Queb Podcast Episode #58

Ein spannendes Gespräch rund um die Organisation des Recruitings, mit Michael Witt.

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