Eignungsdiagnostik Teil 2: Einblick in die Kandidatenauswahl bei der Beiersdorf AG

Eignungsdiagnostik Teil 2: Einblick in die Kandidatenauswahl bei Beiersdorf

Ein Gastbeitrag von Kevin-Lim Jungbauer (Recruiting and HR Diagnostics Expert at Beiersdorf)

Während der erste Blogbeitrag dieser Serie einen theoretischen Fokus auf die Eignungsdiagnostik hatte, werden in “Eignungsdiagnostik Teil 2: Einblick in die Kandidatenauswahl bei der Beiersdorf AG”, beispielhaft konkrete Anwendungsfälle in der Kandidatenauswahl bei Beiersdorf skizziert.

Trainee-Auswahl als Beispiel für eine multimodale Diagnostik

Der Auswahlprozess im BEYOND BORDER Trainee-Programm bei Beiersdorf veranschaulicht, wie unterschiedliche eignungsdiagnostische Methoden nach dem multimodalen Baukastenprinzip sinnvoll kombiniert werden können. Durch den Einsatz wissenschaftlich validierter und aufeinander abgestimmter Verfahren entlang des gesamten Auswahlprozesses erfolgt ein differenziertes Assessment der Kandidaten. Dazu gehören ein modulares Online Assessment, das zeitversetzte Video-Interview sowie der Auswahltag. Elemente dieses Auswahltags sind neben einer Interviewrunde mit Beiersdorf-Managern eine individuell zu bearbeitende Fallstudie sowie ein Rollenspiel. Diese Zusammenstellung von Auswahlinstrumenten verdeutlicht die Umsetzung einiger eignungsdiagnostischer Prinzipien sehr gut:

  • Es kommen mit Online Assessments bereits zu Beginn des Auswahlprozesses eigenschafts-orientierte Verfahren zum Einsatz, die valide und reliabel job-relevante Merkmale messen.
  • Anhand des zeitversetzten Video-Interview-Formats erfolgt biografie-orientiert eine strukturierte und standardisierte Evaluation weiterer Bewerbermerkmale (jeder Kandidat erhält dieselben Interview-Fragen).
  • Am Auswahltag werden mit Interviews, Fallstudie und Rollenspiel weitere biografie-orientierte sowie simulations-orientierte Verfahren abgedeckt, die sich gegenseitig ergänzen.
  • Dadurch, dass mehrere Assessoren am Auswahlprozess mit ihren Beobachtungen teilnehmen, wird schließlich eine größere Objektivität erreicht (Multiperspektivität).

Assessment Center mit Fokus auf Learning Agility

Zu einer guten Eignungsdiagnostik gehört ein klarer Anforderungsbezug. Mit dem Eintritt in die VUCA-Welt haben in den letzten Jahren neben den klassischen Anforderungen zu Business and Soft Skills zunehmend Meta-Kompetenzen wie Reflexions- und Lernfähigkeit bei der Kandidaten-Auswahl an Bedeutung gewonnen. Daher wurde bei der letzten Überarbeitung des Auswahltages der Fokus auf die Identifikation von „Learning Agility“ gelegt – die Bereitschaft und Fähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen und diese erfolgreich unter neuen Bedingungen anzuwenden. Das heißt konkret, dass Teilnehmer im Rahmen des Auswahltags Feedback zu einzelnen Übungseinheiten erhalten und ihnen die Möglichkeit gegeben wird, dieses Feedback direkt umzusetzen. Durch den Einsatz einer solchen Feedbackintervention wird Potenzial besser messbar, weil nicht nur der vergangenheitsorientierte Status Quo der Fähigkeiten eines Kandidaten erfasst wird, sondern auch die Anpassungsfähigkeit nach dem Erhalt neuer Umfeld-Informationen. Oder mit anderen Worten: Statt eine statische Maximalleistung zu messen wird auch das Delta, also die individuelle Veränderungsleistung, erfasst.

Darüber hinaus fokussiert diese neue Auswahlpraxis besonders auf selbstreflexive Elemente und die kontinuierliche Konfrontation von Selbstwahrnehmungen der Kandidaten mit den Fremdwahrnehmungen der Beobachter. Behaviorale Interview-Fragen („Welche Beispiele für Kompetenz X kannst du nennen?“) sind immer noch wichtig, aber die Bedeutung von Reflexions-Momenten nimmt zu („Was hat dich geprägt? Was hast du in der Übung gerade über dich und andere gelernt?“). Dadurch ergeben sich aufschlussreiche Beobachtungspunkte, die eine tiefere Ebene diagnostischer Informationen zugänglich machen.

Der Auswahltag erhält im selben Zuge auch einen stärkeren Coaching-Charakter, was für die Teilnehmer eine wichtige Sache ist. Die auf eine wertschätzende Weise übermittelten Feedbacks führen zu einem höheren Engagement der Teilnehmer als es in klassischen Assessment Centern oft der Fall ist. Die gängigen Rollenspielszenarien, in denen eine fiktive Position eingenommen werden soll, rufen eher stereotype Verhaltensreaktionen hervor. Eignungsdiagnostisch gesehen sind die Einblicke entsprechend begrenzt. Demgegenüber ermöglicht das Learning-Agility Format eine stärkere persönliche Einbindung der Teilnehmer in den Prozess (da „echtes“ personenbezogenes Feedback gegeben wird) sowie eine als fair erlebte (da gemeinsam erarbeitete) Einschätzung von individuellen Stärken und Entwicklungsfeldern. Durch diese besondere Wertschätzung lernen die Teilnehmer auch etwas für zukünftige Bewerbungsprozesse, wenn nicht für das Leben – unabhängig davon, ob sie am Ende für eine Trainee-Stelle ausgewählt wurden. Eine solch zuvorkommende Behandlung der Kandidaten hat wiederum positive Auswirkungen auf das Employer Branding.

Eignungsdiagnostik bei Berufserfahrenen

Aufgrund des hohen Aufwands lässt sich die umfangreiche Diagnostik eines Auswahltags natürlich nicht flächendeckend realisieren. Aber auch im Recruiting-Prozess für andere Zielgruppen lässt sich eine multimodale Auswahlstrategie sehr gut verfolgen: Etwa indem man bereits in der Vorauswahl Online-Assessments zur Priorisierung von eingehenden Bewerbungen einsetzt, in späteren Prozessschritten die Interviews um simulative Ansätze anreichert (z. B. ein gemeinsames fachliches Brainstorming), oder die zentralen Elemente eines Auswahltags in einem abgespeckten Mini-AC abbildet.

Insbesondere der Einsatz von Persönlichkeitsfragebögen als zusätzlicher Bestandteil bei den persönlichen Gesprächen hat sich bei Beiersdorf als eine einfach umzusetzende Maßnahme mit großem Mehrwert erwiesen. Auch hier sind die Verfahren maximal auf Zielgruppen zugeschnitten (bei Führungspositionen etwa kommt ein führungsspezifischer Persönlichkeits-Fragebogen zum Einsatz). Persönlichkeits-Assessments führen bereits im Vorfeld des persönlichen Gesprächs zu tieferen Einsichten über den Kandidaten – im Sinne erster Hypothesen wohlgemerkt, die es im eigentlichen Gespräch zu validieren gilt. Natürlich sollten anhand der Ergebnisse keine Pauschalurteile gefällt werden. Unabhängig von der Persönlichkeits-Veranlagung kann sich beispielsweise ein eher introvertierter Kandidat im Verlauf seines beruflichen Lebens sehr wohl Kompetenzen angeeignet haben, die ihn zu einem sehr guten Vertriebler machen. Menschen sind komplex – aber genau darauf zielt die Eignungsdiagnostik ab: Es geht darum, ein weiteres Stück zu diesem komplexen Puzzle zu erhalten und dadurch einen differenzierteren Eindruck vom Kandidaten zu gewinnen.

Praktisch umgesetzt heißt das: Statt wie meist üblich erst in die Breite fragen zu müssen, welche der beruflichen Anforderungen der Kandidat grundsätzlich erfüllt, können Recruiter mit dem erweiterten Wissen über dessen Grundveranlagung sehr zielgerichtet Fragen in die Tiefe stellen, um somit die limitierte Zeit des Gesprächs optimal zu nutzen und den Fokus ihrer Nachfragen auf die relevantesten Bereiche zu richten. Darüber hinaus ist es sogar möglich, mit dem Kandidaten selbst auf Basis der Ergebnisse in einen transparenten Dialog zu treten und gemeinsam die Passung zur Stelle zu reflektieren. Diagnostik auf Augenhöhe, sozusagen! Wie die Ergebnisse verwertet werden, bleibt die Entscheidung des Recruiters, der am Ende des Interviews gemeinsam mit seinen Interviewpartnern die Auswahlentscheidung trifft – aber nun eben auf Basis einer viel größeren Informationsfülle. 

Fazit

Eignungsdiagnostik ist aus einer modernen, professionellen Personalauswahl nicht wegzudenken. Sie liefert Gestaltungsprinzipien, Handlungsempfehlungen und Instrumente, die eine valide und ganzheitliche Kandidaten-Einschätzung und somit bessere Auswahlentscheidungen ermöglichen.

 

Hier geht es zum 1. Teil der Blog-Serie: Eignungsdiagnostik Teil 1: Grundlagen der Eignungsdiagnostik

Hier arbeitet eines der größten Experten-Teams an der Zukunft des HR: Queb | Bundesverband für Employer Branding, Personalmarketing und Recruiting e. V.Bildquelle: Photo by Jacek Dylag on Unsplash https://unsplash.com/photos/PMxT0XtQ–A