Eignungsdiagnostik Teil 1: Grundlagen der Eignungsdiagnostik

Eignungsdiagnostik Teil 1: Grundlagen der Eignungsdiagnostik

Ein Gastbeitrag von Kevin-Lim Jungbauer (Recruiting and HR Diagnostics Expert at Beiersdorf)

 

Inhalt:

  • Eignungsdiagnostik – Was ist das?
  • Zusammenhang zwischen Bewerbermerkmalen und Berufserfolg
  • Diagnostik nach dem Baukastenprinzip
  • Vorteile einer multimodalen Auswahlstrategie
  • Was gibt es sonst noch zu wissen?
  • Zukünftige Entwicklungen in der Eignungsdiagnostik
  • Anbieter eignungsdiagnostischer Lösungen

Im zweiten Teil dieser Serie gibt Kevin-Lim Jungbauer einen Einblick in die Eignungsdiagnostik in der Kandidaten-Auswahl der Beiersdorf AG.
Hier geht es zu Eignungsdiagnostik Teil 2: Einblick in die Kandidatenauswahl bei der Beiersdorf AG 


Eignungsdiagnostik – Was ist das?

„Wie können wir treffsicher vorhersagen, ob ein Bewerber auf eine Stelle passt?“ Diese Kernfrage der Personalauswahl lässt sich mit Hilfe der beruflichen Eignungsdiagnostik beantworten. Unter diesem Begriff werden alle Prinzipien, Prozesse und Verfahren zusammengefasst, die dabei helfen, ein Match zwischen Anforderungs- und Eignungsprofil herzustellen.

Die Eignungsdiagnostik liefert Einsichten über Erfolgsmerkmale und gibt Qualitätskriterien für den Einsatz von Auswahlinstrumenten an die Hand: Ist eine valide Prognose der späteren beruflichen Leistung möglich? Ist die Messung der beruflichen Anforderungen akkurat und auch im Zeitverlauf reliabel? Sind die Ergebnisse möglichst objektiv und frei von Verfälschungseinflüssen?

Diese Fragen sollten bei der Gestaltung eines Auswahlprozesses mit einem Ja beantwortet werden. Ansonsten kann es zu falschen Personalentscheidungen kommen, und die sind teuer. Es entstehen Kosten von möglichen Abfindungen und der erneuten Personalsuche über die Einarbeitungszeit neuer Mitarbeiter bis hin zu Produktivitätsverlusten in der Belegschaft. Eignungsdiagnostik hilft dabei, Falsch-Entscheidungen zu reduzieren und die Personalauswahl auf festere Füße zu stellen. Dazu baut sie auf Jahrzehnten wissenschaftlicher Forschung auf.

Zusammenhang zwischen Bewerbermerkmalen und Berufserfolg

Dank zahlreicher Langzeitstudien wissen wir heute sehr gut, welche Merkmale berufliche Eignung besser hervorsagen und welche weniger geeignet sind. Die allgemeine kognitive Leistungsfähigkeit z. B. ist für die meisten Berufsbilder ein sehr valider Prädiktor dafür, wieviel PS ein Kandidat in seiner beruflichen Rolle später auf die Straße bringen kann. Im Job des modernen „knowledge workers“ geht es schließlich um das Lösen komplexer Probleme. Wissensarbeiter müssen vielfältige intellektuelle Herausforderungen meistern sowie kontinuierliche Wissenserweiterung betreiben. Auch das Dazulernen im Hinblick auf das eigene Verhalten ist von Bedeutung.

Kognitive Fähigkeiten haben also eine klare Relevanz für eine Auswahlentscheidung, sind ohne den Einsatz geeigneter eignungsdiagnostischer Instrumente aber nur schwer erkennbar: Setzt man (wie in vielen Unternehmen noch üblich) allein auf den Lebenslauf und das Interview, bleibt das wahre intellektuelle Potenzial eines Kandidaten womöglich verborgen. Die gute Nachricht: Die Eignungsdiagnostik bietet mit wissenschaftlich fundierten kognitiven Leistungstests eine evidenzbasierte und kostengünstige Möglichkeit, über den Kandidaten ergänzende Informationen für die Auswahlentscheidung zu erhalten.

Neben den kognitiven Fähigkeiten spielt Persönlichkeit eine herausragende Rolle für die berufliche Leistungs- und Potenzialvorhersage. Dank eignungsdiagnostischer Erkenntnisse lassen sich gut Vorhersagen zur Passung eines Kandidaten zu unterschiedlichen Anforderungen treffen. Ein höher ausgeprägtes Maß an Extraversion gepaart mit gutem Einfühlungsvermögen etwa wirkt sich in Vertriebspositionen positiv auf die berufliche Leistung aus. Jemand mit einer sehr gewissenhaften Veranlagung wird sich in strukturierten Aufgaben leichter tun als in unstrukturierten. Und Menschen mit hohem Ehrgeiz wird in einer Rolle mit begrenzten Gestaltungsmöglichkeiten schneller langweilig.

Diagnostik nach dem Baukastenprinzip

Der Einsatz der genannten Verfahren ist ein wichtiger erster Schritt hin zu einer höheren Qualität in der Personalauswahl. Eignungsdiagnostik ist aber mehr: Es geht um eine ganzheitlich durchdachte Auswahlstrategie. Ein zentrales Prinzip der Eignungsdiagnostik ist die „Multimodalität“. Hierbei kommen mehrere Verfahren nach dem Baukastenprinzip zusammen, die berufsrelevante Anforderungen auf möglichst unterschiedlichen Wegen erfassen. Dabei lassen sich folgende Verfahren unterschieden:

  • Biografie-orientierte Verfahren: Es werden Informationen zu vergangenen Erfahrungen des Kandidaten gesammelt, z. B. Ausbildung, Berufserfahrung, Spezialwissen. Als Instrumente dienen die klassische Lebenslaufanalyse oder das behaviorale Interview.
  • Eigenschafts-orientierte Verfahren: Es werden stabile individuelle Merkmale erfasst, z.B. kognitive Fähigkeiten oder Persönlichkeitsfacetten. Die Messung erfolgt anhand psychometrischer Testverfahren (kognitive Leistungstests, Persönlichkeitsfragebögen).
  • Simulations-orientierte Verfahren: Eine realitätsnahe Situation aus dem Business wird simuliert und das konkrete Verhalten der Person, z. B. kommunikative Fähigkeiten, wird beobachtet. Beispiele dafür sind Fallstudien und Arbeitsproben.

Vorteile einer multimodalen Auswahlstrategie

Da in der Anwendungsrealität keines dieser Verfahren perfekt ist, ist deren isolierter Einsatz immer mit Limitationen behaftet. Bei einer multimodalen Auswahlstrategie jedoch kompensiert der kombinierte Einsatz mögliche Grenzen des jeweiligen Verfahrens und schafft stattdessen Synergien.

Ein Beispiel: Das persönliche Interview (biografie-orientiert) ist der Hauptpfeiler in der Personalauswahl. Mit keinem anderen Instrument lassen sich Stellenanforderungen so gut in Breite und Tiefen messen. Auf der anderen Seite kann es jedoch eine subjektive Färbung in Abhängigkeit von den Interviewpartnern besitzen. Psychometrische Verfahren (eigenschafts-orientiert) können hier Abhilfe schaffen, da sie mit einer knallharten Objektivität punkten und zudem Eigenschaften erfassen, die im persönlichen Gespräch nicht immer leicht in Erfahrung zu bringen sind. Sie haben aber wiederum den Nachteil einer eher abstrakten Messung beruflicher Anforderungen. Schließlich lässt sich anhand einer Fallstudie (simulations-orientiert) der konkrete Job-Bezug herstellen und tatsächliches Verhalten wird beobachtet. Der Nachteil hier ist, dass es künstlich anmuten kann. Daher sind auch hier wieder die gewonnenen Eindrücke mithilfe von anderen Modalitäten (z. B. Interview-Fragen zu realen beruflichen Situationen) abzusichern, und so schließt sich der Kreis.

Was gibt es sonst noch zu wissen?

Es gibt noch eine ganze Reihe von weiteren eignungsdiagnostischen Prinzipien:

  • Eine klare Anforderungsanalyse zu Beginn des Auswahlprozesses sowie Festlegung, wie die Anforderungen im Verlauf gemessen werden.
  • Eine höhere Standardisierung im Rahmen der Interview-Gestaltung, beispielsweise durch Anforderungsbezug der Fragen, gleiche Fragen für alle Bewerber, oder Einsatz von Verhaltensankern für eine genaue Beurteilung.
  • Qualifizierung der am Auswahlprozess beteiligten Personaler, etwa durch spezielle Schulungsangebote (Fragetechniken, Umgang mit Unconscious Biases…).
  • Etc.

Wie eingangs erwähnt ist Eignungsdiagnostik ein weitgefasster Begriff. Alle Aktivitäten, die einer nachhaltigen Professionalisierung der Personalauswahl dienlich sind, fallen darunter.
In diesem Zusammenhang haben einige sicher schon von der DIN 33430 gehört. Das ist eine Prozessnorm, in der Qualitätskriterien für eignungsdiagnostische Aktivitäten beschrieben sind. Vieles von dem, was in diesem Blog-Artikel beschrieben wurde, findet man dort in aller Ausführlichkeit wieder – von der Anforderungsanalyse über Auswahl und Einsatz von Instrumenten bis hin zur finalen Eignungsbeurteilung.

Zukünftige Entwicklungen in der Eignungsdiagnostik

Die Digitalisierung hat bereits vielen neuen und spannenden Assessment-Tools den Weg geebnet, die unter Berücksichtigung solider eignungsdiagnostischer Prinzipien entwickelt worden sind. Dazu zählt etwa das zeitversetzte Video-Interview oder das virtuelle Assessment Center.

Zukünftig werden eignungsdiagnostische Instrumente, gerade im Nachwuchsbereich, sicher noch gamifizierter. Der Bewerber durchläuft auf seinem Smartphone dann eine Reihe von Spielen, in denen er Punkte sammeln und Level aufsteigen kann. Sowohl der „Erfolg“ im Spiel als auch die individuelle Spielweise sollen hierbei Aufschluss über relevante Leistungsindikatoren geben. Durch Gamifizierung werden Assessments für die Kandidaten spannender und kurzweiliger. Allerdings ist zu beachten, dass qualifizierte Kandidaten oft noch ein seriöses Assessment bevorzugen. Schließlich handelt es sich um eine high-stakes Bewerbungs-Situation. Auch sind die Qualitätsunterschiede unter den Anbietern noch sehr groß. Die Bandbreite reicht von „Gamified Assessments“, die nach soliden eignungsdiagnostischen Kriterien entwickelt worden sind, bis hin zu „Game-Based Assessments“, die methodisch eher einfach gestrickt sind und vornehmlich Employer Branding-Zwecken dienen.

Auch durch die zunehmende Durchdringung mit KI-basierten Lösungen entwickelt sich die Diagnostik-Landschaft weiter. Der Grundgedanke dieser Verfahren ist es, beim Bewerber datenbasiert „Erfolgsmuster“ aufzuspüren, die zuvor an einer Stichprobe von Best Performern identifiziert worden sind. Die KI sammelt dazu zig-tausende Datenpunkte pro Individuum (je nach Verfahren können das beispielsweise Sprachproben oder per Video aufgezeichnete non-verbale Marker sein), korreliert diese mit unternehmensspezifischen Leistungsdaten und empfiehlt am Ende des Prozesses diejenigen Bewerber, die dem Erfolgsmuster am ehesten entsprechen. Leider ist hier letztlich nicht klar, was genau diese Erfolgsmuster aussagen. Der Algorithmus, der die statistischen Zusammenhänge errechnet hat, ist eine „black box“: es besteht die Gefahr, dass die Erfolgsmuster gar nicht kausal im Zusammenhang mit der beruflichen Leistung stehen. Strenggenommen bilden KI-Verfahren einen klaren Kontrapunkt zur klassischen Eignungsdiagnostik, in der Wert auf vollständige Transparenz der Messmethode sowie überprüfbare Validität gelegt wird. Es wird sehr spannend sein zu sehen, welche KI-Lösungen es schaffen, ihre Technologie mit der Erfüllung eignungsdiagnostischer Mindestanforderungen zu verbinden.

Anbieter eignungsdiagnostischer Lösungen

To be continued

Nachdem in diesem ersten Blogbeitrag dieser Serie Grundlagen der Eignungsdiagnostik erklärt wurden, wird im zweiten Blogbeitrag Einblick dazu gegeben, wie Eignungsdiagnostik in der Kandidaten-Auswahl bei der Beiersdorf AG zur Anwendung kommt.

Hier geht es zu Eignungsdiagnostik Teil 2: Einblick in die Kandidatenauswahl bei der Beiersdorf AG 

Hier arbeitet eines der größten Experten-Teams an der Zukunft des HR: Queb | Bundesverband für Employer Branding, Personalmarketing und Recruiting e. V.Bildquelle: Photo by Jess Bailey on Unsplash https://unsplash.com/photos/l3N9Q27zULw