Neurowissenschaftler Henning Beck: Stärken & Schwächen des menschlichen Gehirns vs KI-Zeitalter

Henning Beck: Gehirn vs. KI

Henning Beck ist Neurowissenschaftler, Bestseller-Autor und Deutscher Meister im Science Slam. Henning macht Wissenschaft verständlich und nimmt uns in diesem Interview mit auf die Entdeckungsreise „Menschliches Gehirn vs. KI“. Im Interview beleuchten wir gemeinsam die faszinierenden Unterschiede zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz und ergründen, wie Menschen in einer zunehmend digitalisierten Welt ihre kognitiven Stärken ausspielen können.

Stell Dich unseren Lesern bitte einmal kurz vor!

Mein Name ist Henning Beck. Ich bin promovierter Neurowissenschaftler und Sachbuchautor. Mich interessiert die spannendste Frage der Wissenschaft: Wie entstehen Gedanken? Wie unterscheiden wir uns dabei von Künstlicher Intelligenz und wie kommen wir auf neue Ideen?

Henning Beck: Gehirn vs. KI

Was würdest Du sagen, ist der größte Unterschied zwischen unserem menschlichen Gehirn und einer KI wie ChatGPT?

Eine KI wie ChatGPT analysiert eine große Menge an Daten, bildet daraus ein statistisches Gerüst, um abzuleiten, welcher Output für einen gegebenen Input besonders wahrscheinlich ist. Nach dem Motto: Auf „Amsel, Drossel, Fink und …“ folgt „Star“ – und nicht „Pudding“. Auf diese Weise kann ich mir einen Satz zusammenpuzzeln, oder einen Song erstellen, Bilder oder Videos erzeugen.

Menschen machen es aber genau andersrum: Wir erzeugen Sätze nicht durch eine ausgeklügelte Wortvorhersage, sondern haben gleich zu Beginn eine Absicht im Kopf. Bevor wir anfangen zu sprechen, müssen wir wissen, wohin die Reise geht, wie der Satz enden soll. Wir denken nicht in Sprache. Wir denken in Bildern, in Mustern, in Zusammenhängen, Gefühlen und abstrakten Strukturen. Sprache ist der Retrofit für die Idee, die wir längst im Kopf haben. Und Sprache ist für Bewusstsein, für Willensentscheidungen, für Kreativität, für planvolles Handeln gar nicht nötig, wie Tiere beweisen, die keine symbolhafte Sprache besitzen, aber all das können.

Wo liegen demnach die Vorteile des menschlichen Gehirns?

Was ist Ihnen wichtiger: Freiheit oder Sicherheit? Wie glücklich sind Sie gerade? Was bedeutet Gesundheit für Sie? Oder Hoffnung? Was ist niedlicher: ein Eichhörnchen oder ein Teddybär?

Menschen sind immer dann gut, wenn es ums objektiv Nicht-Messbare geht. Oder wenn die Datenlage schlecht ist. Beim Heiraten zum Beispiel: Sie können nicht tausende Partnerinnen oder Partner testen, bevor Sie heiraten. Wenn Sie diese Entscheidung fürs Leben treffen, ist Ihre Datenbasis immer schlecht. Eine erfolgreiche Beziehung ist auch nicht objektiv zu messen, es gibt keine Kennzahl dafür. Wenn es nichts zu messen gibt, kann man auch nicht quantitativ optimieren. Das ist dann das Ende für KI, die ultimative Optimierungsmaschine. Denn Intelligenz ist nichts anderes als die Fähigkeit, Probleme immer effizienter zu lösen.

Was macht unser Gehirn in der heutigen Zeit so besonders und welche Denkweisen sind jetzt und in Zukunft gefragt?

Wir sind im Kant-Jahr 2024. Niemals war es wichtiger, aufgeklärt, sprich: mündig und selbstständig, zu denken als heute. Wenn KI optimieren und viel Output erzeugen kann, dann wird es umso wichtiger, dass wir definieren, was wir wollen. Dass wir Ursache und Wirkung auseinanderhalten. Oder den Zweck, das Ziel einer Maßnahme definieren. Dass wir Fragen stellen und Regeln hinterfragen, um sie besser zu machen. Intelligenz bedeutet, die Regeln bestmöglich zu befolgen und zu optimieren. Menschliches Denken bedeutet, neue Regeln aufzustellen und alte zu brechen. Das ist kultureller Fortschritt. Und er beginnt damit, dass man versteht, um was es geht.

Wie schaffen wir es, das Beste aus den Möglichkeiten unseres Gehirns herausholen?

Wir dürfen uns nicht auf das Niveau einer Maschine begeben. Mit KI konkurrieren zu wollen, ist ein aussichtsloses Unterfangen. Niemals werden Menschen in großen Datenmengen bessere Muster erkennen. Oder mehr medialen Output erzeugen.

Für uns ist es wichtig, dass wir Pausen machen, in denen wir nachdenken. In einer Welt des Overkills an Informationen macht die clever gesetzte Verdauungspause den Unterschied zwischen cleverem Denken und mechanischem Abarbeiten. Die cleversten Leute, die ich in Kalifornien kenne, haben alle ein Hobby, bei dem sie nicht erreichbar sind.

Wir sollten das Kontra-Intuitive suchen. Andere Perspektiven, andere Meinungen. Ich habe noch kein Projekt erlebt, das nicht davon profitiert, einen Nicht-Experten zu fragen. Jemand, der einen neuen Blickwinkel bietet, sorgt dafür, dass ich mich selbst im Denken öffne. Im Übrigen macht KI das gerade nicht. Aktuelle Studien zeigen, dass die Nutzung von KI-Sprachbots die Menschen engstirniger und weniger offen denken lässt.

Zum Dritten sollten wir Menschen mehr Freiräume zum Ausprobieren geben. Wir sind ein reiches, altes und sattes Land. Wir haben so viel Wohlstand angehäuft, dass neue Ideen immer aus der Perspektive des Risikos betrachtet werden. Niemand stellt die Frage: Was ist das Risiko, wenn man eine neue Technologie nicht einsetzt? In Umfragen sagt noch nicht mal ein Viertel der Deutschen, dass neue Technik mehr Probleme löst als sie schafft. Wir brauchen mehr Mut und Gestaltungsfreiheit, um schnell und nachhaltig neue Ideen umzusetzen. Je schneller ein Erfolg einsetzt, desto mehr werden Menschen dadurch motiviert. So entsteht Flow.

Welche Rolle spielen nicht messbare, menschliche Aspekte im Arbeitsumfeld, und wie können wir sie neben der KI-Technologie bewahren?

Die wichtigsten Dinge des Arbeitsalltags sind nicht messbar: Ideen, Wissen, Vertrauen, Mut – aber auch Angst, Missgunst und Eitelkeit. Die allermeisten Abläufe in einem Unternehmen bekommt das Controlling niemals zu Gesicht, weil einfach keine skalierbaren Kennzahlen existieren. Man behilft sich dann über Umwege, fragt die Zufriedenheit mit einem Score ab. Doch das bildet die Realität niemals vollständig ab. Ein Fehler, den man dann oft begeht, ist es, ins Mikromanagement zu verfallen. Nach dem Motto: Was ich nicht zu fassen kriege, muss ich umso stärker kontrollieren. So verschlimmbessert man jedoch die Abläufe nur noch. Je mehr uns neue Technologien (nicht nur KI) Arbeitsprozesse optimieren werden, desto mehr muss man darauf achten, die nicht-messbaren Bestandteile zu berücksichtigen. Das ist eine Leadership-Aufgabe. Je digitaler das Leben wird, desto wichtiger wird auch das Analoge. Solche sozialen Kompetenzen werden niemals ersetzbar sein – und sie auszubilden, wird über den Erfolg zukünftiger Unternehmen entscheiden. KI werden Sie kaufen können, es ist eine Software. Aber das kann jeder Ihrer Wettbewerber. Die wichtigste Ressource Ihres Unternehmens klug zu nutzen (nämlich die Fähigkeiten Ihrer Beschäftigten), wird erfolgsentscheidend sein.

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Das neue Buch von Henning Beck: “12 Gesetze der Dummheit”, erschienen im Econ Verlag

In welchen Aspekten sind KI-Systeme wie ChatGPT beeindruckend und wo liegen dennoch ihre Grenzen?

KI-Systeme sind immer gut, wenn es ausreichend Daten fürs Training gibt. Wenn etwas optimiert werden soll. Wenn die Fragestellung quantitativ ist, sodass man später auswählen kann. Bei generativer KI ist das besonders interessant. Ihr Output ist im Grunde ein Angebot. Menschen tun sich schwer, in ähnlicher Menge Output (Texte, Bilder, Musik oder Videos) zu erzeugen. Wenn Sie das Ergebnis einer generativen KI beurteilen, können Sie jedoch sofort sagen, ob das funktioniert oder nicht. Vielleicht werden schlaue Menschen durch solche KI noch schlauer. Und dumme Menschen noch dümmer, weil sie sich unkritisch auf die KI verlassen. KI könnte dann ein kognitiver Spaltpilz sein.

Auf der anderen Seite sind KI-Systeme oft überangepasst, versagen (mathematisch beweisbar) in einem neuen Problemumfeld, das nicht im Trainingsdatensatz vorhanden ist. Sie können Regeln nur befolgen, nicht aktiv und gestaltend ändern. Sie erkennen nicht den Unterschied zwischen Ursache und Wirkung, sie haben keine Absicht und keinen Plan – kurzum: Sie verstehen nicht, was sie tun.

Einige Menschen haben Angst, durch KI ersetzt zu werden. Andere sind überzeugt, dass Mensch und KI gemeinsam unschlagbar sind. Wie siehst Du das?

Niemals in der Menschheitsgeschichte hat eine neue Technologie, die die Arbeitskraft der Menschen unterstützt, zu Massenarbeitslosigkeit geführt, sondern immer mehr Jobs geschaffen als vernichtet. Diesen Effekt nennt man „Parkinsons Gesetz“: Je mehr Möglichkeiten wir haben, um Arbeit schneller zu erledigen, desto mehr Arbeit werden wir „erfinden“. Die Vorstellung, dass Arbeitskraft massenhaft freigesetzt wird, ist völlig phantasielos. Man unterschätzt gewaltig, welche neue Arbeit durch KI entstehen wird.

Menschen sind KI überlegen, wenn die Datenlage besonders schlecht ist. Warum ist das so und was können wir daraus lernen?

Menschen gehen nicht durch die Welt und analysieren Daten. Menschen bauen mentale Modelle auf, die sie zielgerichtet für eine Absicht einsetzen. Wenn Sie zum ersten Mal ein Smartphone sehen und Ihnen jemand erklärt, was ein „Selfie“ ist, dann haben Sie das Konzept des Selfies sofort für eine zukünftige Planung zur Verfügung. Deswegen ist die größte Stärke des menschlichen Denkens nicht die Intelligenz. Die größte Stärke ist die Anpassungsfähigkeit und die Möglichkeit, sein Denken blitzschnell (und für immer) zu justieren. Die ersten Kreativitätstests wurden von der NASA entwickelt, als man Astronauten für die Mondmissionen rekrutierte. Denn intelligente Menschen verschieben ja gerade nicht die Grenzen der Menschheit, sie akzeptieren sie – perfekt und fehlerfrei.

Wie können moderne Führungsstile und -prinzipien die Zusammenarbeit zwischen Menschen und KI verbessern?

Man muss KI als das behandeln, was sie ist: ein dummer, aber fleißiger Sklave unseres Geistes. KI ist ein geistloses Optimierungstool, das überall dort stark ist, wo wir schwach sind. Deswegen würde ich niemals von Zusammenarbeit von KI und Mensch sprechen. Es würde voraussetzen, dass KI absichtsvolle Arbeit verrichten kann. Dabei ist sie wie jedes andere Informationstool in der Vergangenheit: Sie ist dumm – und wird erst durch menschliche Nutzung machtvoll. Mutig, offen für Neues zu sein, die Technik auszuprobieren und vor allem: Immer zunächst in einem konkreten Pilotprojekt vollständig testen, um die Möglichkeiten und Grenzen zu erkennen, wird den Gewinn bringen. Wir sind jetzt dort, wo wir 2000 schon einmal waren: Es war klar, dass eine neue Technologie (damals das Internet) völlig neue Geschäftsmodelle ermöglicht. 2000 platzte trotzdem die Dot-com-Blase. Das mobile Internet, Google, Amazon und Social Media kamen trotzdem ein paar Jahre später. Was deswegen Ende der 20er auf dem Markt sein wird? Wir wissen es nicht. Aber nur wer jetzt ausprobiert und clever hinterfragt, wie man damit in seinem Business Geld verdienen kann, wird es tun.

Vielen lieben Dank für die spannenden Einsichten! Wir sind ebenfalls gespannt, ab wann wir sehen können, wie Gedanken entstehen. 😉

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